Digitalisierungsgeschichten
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Dieser Text stammt aus dem Editorial der c’t 16/2022 des Heise Verlags. Autor Tim Gerber berichtet hier über seine persönlichen Erfahrungen mit der deutschen analogen Bürokratie:
“Normalerweise verteilt sich amtlicher Papierkram gleichmäßig über das gesamte Leben. ‘Von der Wiege bis zur Bahre: Formulare, Formulare’, sagt der Volksmund. Muss man aber wie meine Mitbewohnerin Olga aus der Ukraine flüchten und kommt unvorbereitet in Deutschland an, trifft einen die deutsche Bürokratie unvermittelt mit voller Wucht. Analog, versteht sich.
So sitze ich mit Olga und ihrer achtköpfigen Familie seit Wochen allabendlich am Küchentisch, wo wir gemeinsam über den eingetrudelten Behördenschreiben und Formularen brüten. Immer wieder staunt die Ukrainerin, wie wenig fortgeschritten die Digitalisierung in der deutschen Bürokratie ist. Vom Aufenthaltstitel bis zur Schulaufnahme – kein Formular lässt sich ohne Weiteres am PC ausfüllen. Maschinenlesbarkeit – eine Grundvoraussetzung, um schnell mal zu übersetzen – völlige Fehlanzeige. Längst eingemottete Gerätschaften wie Drucker, Scanner und Faxgerät (sic!) erhalten ein zweites Leben.
Den Fragebogen zur Einschulungsuntersuchung schickte die Schulbehörde immerhin per Mail; aber jede der zwei Seiten als einzelne Bilddatei, abfotografiert vom Papier und um 90 Grad verdreht. Eine PC-taugliche Version könne man nicht bereitstellen, weil man das Formular in einer „Verwendergemeinschaft“ einheitlich nutzen müsse. Peinlich vor den Geflüchteten, die aus ihrer vom Krieg gezeichneten Heimat immerhin ein digitales Impfzeugnis für den Hund mitbringen konnten.
Dabei hatte das Auswärtige Amt schon vor vielen Jahren einen innovativen Ansatz zum Ausfüllen und Übermitteln von Visa-Anträgen entwickelt: Über ein Online-Formular erzeugt man einen XML-Datensatz, der sich lokal abspeichern und jederzeit wieder einlesen lässt. Der Anwender behält seine Daten, ihr Schutz ist gewährt. Beim nächsten Antrag liest er den Satz einfach wieder ein und aktualisiert ihn, wo nötig. Doch diese einfache und datenschutzfreundliche Lösung wurde von den anderen Behörden ignoriert. Und so kritzle ich mit Olga und ihrer Familie fleißig zum hundertsten Male persönliche Angaben auf deutsches Behördenpapier.”
Es ist erschreckend, wie wir den digitalen Anschluss verloren haben und es kaum noch Hoffnung zu geben scheint. Man nimmt es ja selbst kaum noch wahr. Um so peinlicher ist es, wenn man solche Kontakte nach “außen” hat, die einem unser deutsches Unvermögen sehr deutlich vor Augen führen.
In einem Land, in dem (Papier-)Formulare als PDF-Abbild bereit gestellt werden, die dann doch nur als Fax o.ä. enden und von Menschen unnötigerweise noch einmal erfasst werden müssen … ist einfach nur noch peinlich.